Erinnerungen von Gerhard Recker an die Luftangriffe auf Neubeckum

Gerhard Recker wurde 1936 geboren und erlebte die Bombardierung Neubeckums als Schulkind. Er erinnert sich:

In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 und in den ersten drei Monaten 1945 konnte der Schulunterricht nur bei trübem und regnerischem Wetter … stattfinden. Der Grund war ständiger Fliegeralarm bei schönem Wetter zwischen 9 und 10.30 Uhr. Wenn die Sonne schien und die Sicht klar war, war für die Alliierten ideales Flugwetter. … Entwarnung kam vielfach erst spät nachmittags. Und in mondhellen Nächten gab es nochmals Alarm; dann hörte man das Dröhnen der Bomberverbände, die ihre tödlichen Lasten nach Osten trugen, ….

Wir hatten bis zum 23. März 1944 verhältnismäßig wenig unter feindlichen Bombenangriffen zu leiden. … Aber das sollte sich an diesem Tage ändern.

Der Alarm kam gegen 10.30 Uhr: zunächst Voralarm, dann Vollalarm. Alle Schüler mussten die Klassenräume verlassen und die Luftschutzkeller aufsuchen. …. Wir hörten Motorengedröhn, am Himmel erschien silbrig glänzend ein Bomberverband. …. Plötzlich lösten sich Bomben aus diesen Flugzeugen und stürzten pfeifend hinunter. Dann die Detonationen, die Erde bebte, ein ohrenbetäubendes Krachen und Bersten erfüllte die Luft, schwarzer Qualm verdunkelte den Himmel.

Der westliche Ortsteil, ca. 1km von uns entfernt, Wiethagen, Südstraße. Wickingstraße, Dyckerhoffstraße war bombardiert worden. 150 Bomben wurden abgeworfen. ….

Nichts war mehr wie es war: zerstörte Häuser, das Ellbracht‘sche Gebäude erhielt einen Volltreffer, alle Bewohner kamen ums Leben, aufgerissene Straßen, Bombentrichter an Bombentrichter, noch züngelnde Flammen in Ruinen, zwei notgeschlachtete Pferde, überall Schutt und Trümmer. Menschen suchten in den zerstörten Gebäuden nach Habseligkeiten. ….

Einen weiteren Angriff hatten wir am 21. Oktober 1944. Hierbei wurden die Bahnanlagen, die Häuser Friseur Micke und Schreiner Hegenkötter und auch die Villa Moll in der Mauerstraße getroffen. Hier durchschlug die Bombe das ganze Gebäude und sprengte auch den vorderen Teil der Umfassungsmauer ab.

.…. Immer häufiger wurden die Züge von Tieffliegern beschossen. Hierbei kamen englische „Lightnings“ zum Einsatz. Heulend, mit ratternden Bordkanonen, stürzten sie sich aus dem Himmel und schossen auf alles, was sich bewegte. …..

Den schlimmsten Angriff, den ich erlebt habe, war der Luftangriff am Nachmittag des 22. Februars 1945. Es war nur Voralarm. Plötzlich hörte man das Heulen der Lightnings und die erste Detonation. An unserem Haus zerbarsten klirrend die Fensterscheiben, Dachziegel fielen herunter. Das war nahe, 25 Meter vom Haus entfernt waren zwei Sprengbomben ins Ackerland gefallen.  Meine Mutter raste mit mir in den Keller. Ständig neue Detonationen, das Trommelfell wollte platzen, der Kellerboden hob und senkte sich, das ganze Haus schwankte. …. Wir hatten Todesangst. Jeden Augenblick dachten wir, das sei das Ende. In den Angriffspausen beteten wir laut. Dann wieder Heulen und Detonieren.

Plötzlich Stille. Kein Fluglärm mehr, keine Detonationen. Noch einmal davongekommen. …. Wir bahnten uns unseren Weg über Glassplitter und Schutt die Kellertreppe nach oben. Jedoch wie durch ein Wunder waren wir nicht direkt getroffen worden. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, der Dachstuhl war größtenteils abgedeckt, Rollladen waren aus Führungen gerissen, das Gebäude mit Splittern übersät. Das Haus sah fürchterlich aus, jedoch es stand noch.

Neubeckum lag unter dunklem Qualm. Es stank nach Sprengstoff und Schwefel. In unmittelbarer Nähe unseres Hauses, das unweit der Bahnunterführung an der Ennigerloher Straße lag, waren mehr als 20 Sprengbomben eingeschlagen. Die Schienen auf dem Bahnkörper standen haushoch in der Luft. Die Unterführung selbst wurde nicht getroffen. …. Im Dach der Schule klafften große Löcher. …. Überall Splitterlöcher. 200 Meter weiter bei Kellermann qualmte es. …. Die Gaststätte Wiese und die Bäckerei Gausmann waren total zerstört.  ….

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Bäckerei Gausmann mit Blick auf die Weststr (heute Hubertusstr., März 1944)  Foto:Schulze

Gaststätte Wiese nach dem Bombenangriff im März 1944 Foto: Schulze

Das Schlimmste war, dass es die kleine Fußgängerunterführung zwischen Hüttemann und Wiese nicht mehr gab. Hier war nur noch ein Trümmerfeld. Viele Personen hatten unter dieser kleinen Unterführung Schutz zu finden versucht und gerade diese Unterführung war getroffen worden.  ….

Eine genaue Zahl der Getöteten zu ermitteln, war kaum möglich, da auch viele russische Kriegsgefangene hier Schutz gesucht hatten. Sie waren in Baracken am Bahnkörper untergebracht und mussten die Strecke immer sofort wieder befahrbar machen getreu der Devise “Räder müssen rollen für den Sieg“.

Ich kann mich noch erinnern, dass tagelang mit Presslufthämmern versucht wurde, die Betonmassen zu zerkleinern, um an die Verschütteten heranzukommen. Jedoch das einzige Lebewesen, welches dem Inferno entgangen und lebendig zum Vorschein kam, war der kleine Lillmanstöns’sche Hund, während Marianne Lillmanstöns und ihr kleines Kind den Tod fanden.