Reinhold Kienzle erzählt von seiner Kindheit in Beckum, seinem Einsatz im Krieg und seiner Kriegsgefangenschaft.

„Am 2.Januar 1926 wurde ich in Beckum geboren. Meine Eltern waren Maria Kienzle geborene Paul und Anton Kienzle. Meine Mutter wurde Mariechen gerufen, mein Vater wurde Sepp genannt, wohl weil er aus Bayern stammte. Mein Vater war ein großer, kräftiger Mann und als griechisch-römischer Ringer war er für die Auswahlmannschaft zu den Olympischen Spielen vorgeschlagen. Ich hatte eine ältere Schwester. Wir wohnten bis 1934 an der Hammerstraße und zogen dann zum Mühlenweg, wo meine Eltern ein Haus gebaut hatten.

1932 kam ich in die Elisabethschule. Es gab eine Mädchen- und eine Jungenklasse in diesem Jahrgang. Nach der 4.Klasse mussten wir in die Kettelerschule gehen; wir gingen in zwei Reihen dorthin, die Mädchen links und die Jungen rechts. Selbst die Pausenplätze an dieser Schule waren getrennt nach Mädchen und Jungen. Nach dem 8. Schuljahr bekam ich eine Lehrstelle in der Schlosserei bei Beumer.

Während meiner Schul- und Lehrzeit hatte ich ein schönes Hobby: ich war Mitglied der Segelflieger HJ und baute mit meinen Freunden Modellsegelflieger im Keller des evangelischen Gemeindehauses. Das hat mir immer sehr viel Freude gemacht, auch wenn wir von den Mitgliedern der Motor HJ nicht sehr angesehen waren. Während meiner Lehrzeit machte ich auf den Flugplätzen Borkenberge, Lippstadt und Schueren die Segelscheine A, B und C.

Im Januar 1943 machte ich vorzeitig meine Gesellenprüfung und wurde noch am selben Tag zusammen mit mehreren Beckumern zum Reichsarbeitsdienst auf einen Flugplatz hinter Osnabrück eingezogen. Nach 3 Monaten wurden wir nach Münster abgeordnet und von dort in verschiedene Einsatzgebiete nach Holland, Belgien und Frankreich geschickt. Da ich drei Flugscheine hatte, beorderte man mich zu einem Flugplatz nach Nimes, wo ich eine Grundausbildung zum Lastenseglerpilot machte. Lastensegler waren damals sehr gefragt: sie flogen geräuschlos und tief, so dass sie von dem feindlichen Radar nicht erfasst werden konnten. Sie konnten bis zu 17 Fallschirmspringer mitnehmen, die dann im Morgengrauen hinter den feindlichen Linien abspringen konnten. Der Pilot musste dann allerdings zusehen, dass er wieder heile auf einem sicheren Platz landen konnte.

Ich hatte meine ersten Einsätze im Mittelmeerraum.  Gegen Ende des Krieges wurden wir von Jagdbombern angegriffen. Splitterbomben und Brisanzbomben zerstörten achtzehn Ju 80 und Ju 108, die restlichen auf dem Flugplatz stehenden Flieger wurden durch deutsche Pioniere zerstört. Zu Fuß traten wir den Rückzug durchs Rhonetal an. In Donaueschingen war ich im Lazarett, ich hatte aber nur Fleischwunden. Über Straßburg kam ich dann nach Halberstadt, wo ich als Fallschirmspringer ausgebildet wurde. Die Ausbildung beschränkte sich allerdings nur auf ein paar Übungen wie Runterspringen und Abrollen. Wir sollten nun als Fallschirmspringer eingesetzt werden, aber daraus wurde nichts. Eines nachts hieß es plötzlich: alle anziehen, Klamotten packen und zum Güterbahnhof. Wir wurden nach Forbach ins Saarland gebracht, wo uns am Bahnhof schon ein ostdeutscher General in Empfang nahmen. Wir mussten uns in Reih und Glied aufstellen und er rief uns zu: „Ihr seid jetzt nicht mehr das Fliegerregiment 63, ihr seid jetzt eine Grenadierdivision.“ Wir bekamen alle einen Karabiner ausgehändigt und er schoss in die Luft und rief:“ Wenn einer die Waffe wegwirft, den erschieß ich eigenhändig.“

1945 geriet ich in amerikanische Gefangenschaft und kam in das Kriegsgefangenenlager nach Rheinberg. Wir waren acht Beckumer dort und die Zustände waren schrecklich. Wir saßen im Schlamm, es hat die ganze Zeit geregnet, es gab keine Häuser und keine Toiletten.“

Info

Das Kriegsgefangenenlager Rheinberg war das erste von den Alliierten errichtete Rheinwiesenlager. Es war ein Durchgangslager für Kriegsgefangene und wurde um den 14. April 1945 unter Heranziehung von deutschen Kriegsgefangenen errichtet. Das Lager war von 3 Meter hohen Stacheldrahtzäunen umgeben und nahm über 130000 Kriegsgefangene auf. Kälte, Hunger, mangelnde Hygiene und fehlende medizinische Versorgung verursachten schwere Krankheiten. Zwischen 3000 – 5000 Gefangene verstarben. Das Lager bestand bis September 1945.

„Von Rheinberg wurden mein Freund Hubert Rawens und ich nach Attichy bei Paris verlegt. Als wir eines Morgens sahen, wie die amerikanischen Soldaten mit ihren Wagen und Panzern abzogen, dachten wir, dass wir nach Hause zurückkönnten. Aber das war nicht der Fall, denn die Franzosen hatten ab 1946 das Lager übernommen. Jetzt änderte sich alles: von den Amerikanern hatten wir gute Jacken aus Uniformstoffen und Unterwäsche bekommen, die mussten wir jetzt abgeben. Wir mussten uns nackt ausziehen und bekamen dafür alte Klamotten hingeschmissen.

Von Attichy aus wurden wir in einem Viehwaggon in ein Kriegsgefangenenlager nach Saarburg Elsass gebracht. Hier mussten wir helfen, im Krieg zerstörte Brücken wieder aufzubauen. An einem Bahndamm mussten wir Zementsäcke ausladen, d.h. ein Mann stand im Waggon und ein anderer musste die Säcke unten auf seinen Rücken laden. Bei dieser Arbeit entdeckte ein französischer Soldat, dass ein junger Gefangener eine Zahl unter seinem Arm eintätowiert hatte. Er wusste, dass SS-Leute ihre Blutgruppe unter dem Arm eintätowiert trugen und von nun an hatte der Mann keine gute Stunde mehr. Er musste ohne Pause Zementsäcke rauf und runter tragen. Als er schließlich vor Erschöpfung zusammenbrach, brannte ihn der Franzose mit seiner brennenden Zigarette, so dass er wieder zu Bewusstsein kam. Zurück im Lager wurde er an das Tor eines Stacheldrahtzauns gebunden und damit immer hin und her geschwenkt. Er hat die Nacht nicht überlebt.

In Saarburg sind Hubert Rawens und ich bis 1948 geblieben. Wir hatten uns als Zivilarbeiter gemeldet und haben einige Zeit bei einer Baufirma gearbeitet. Wir hatten Anspruch auf 4 Wochen Heimaturlaub und so fuhren wir am 4. März 1948 zurück nach Beckum. Die Freude bei den Eltern und den Verwandten war groß, doch gab es auch Stimmen, die uns als Vaterlandsverräter beschimpften. Ähnliches hatten wir auch schon in Saarburg gehört. In Beckum bekamen wir den Ratschlag von einem Ingenieur Henkelmann, der bei Beumer arbeitete, dass wir uns Entlassungspapiere von der englischen Behörde geben lassen sollten.  Die zuständige Behörde hatte ihren Sitz in Halle bei Gütersloh. Am nächsten Morgen fuhren wir also mit dem Fahrrad nach Halle und brachten unser Anliegen vor. Aber so einfach war das nicht: wir brauchten zunächst eine Arbeitsbescheinigung und mussten einen Beleg für eine Wohnung haben. Wir fuhren also zurück und sprachen wegen einer Stelle bei der Firma Beumer vor, die uns auch prompt wieder einstellte. Einen Wohnungsnachweis erhielten wir von unseren Eltern und am nächsten Morgen radelten wir wieder nach Halle. Dieses Mal klappte es mit der Entlassungsbescheinigung: wir waren wieder Zuhause.“

Herr Kienzle, hat es in ihrer Familie Gefallene gegeben?

„Ja, zwei Brüder meiner Mutter sind im Krieg gefallen. Paul ist 1943 in Russland durch einen Kopfschuss zu Tode gekommen. Berni, der jüngste Bruder, war Panzerfahrer. Er ist in Russland in seinem Panzer verbrannt. Berni war zuvor noch im Urlaub in Beckum gewesen. Am Tag seiner Abfahrt bat er seine Schwester Maria, sein Gepäck zum Bahnhof zu bringen, er wollte noch einmal in die Stadt gehen. Als sie ihm sein Gepäck brachte, stand er allein am Bahnhof, er konnte sie nicht anschauen. Maria erzählte später Zuhause: “ Unser Berni kommt nicht wieder, er war so unruhig.“

Auch ein Bruder meiner Frau Christine, Franz Schembecker ist gefallen. Er war 1944 während der Ardennenoffensive in amerikanische Gefangenschaft geraten und hatte versucht aus dem Lager zu fliehen. Seine Flucht wurde bemerkt und er wurde angeschossen und verblutete. Seine Familie bekam erst 1958 die Nachricht von seinem Tod. Meine Frau und ich besuchten sein Grab auf dem Kriegsgräberfriedhof Hürtgenwald in der Eifel. Der Friedhofswärter führte uns zum Grab und erzählte dabei, dass noch ein Beckumer hier beigesetzt sei. Ich ging um den Gedenkstein von Franz Schembecker herum und las auf der Rückseite den Namen des anderen Beckumers: es war August Korte vom Münsterweg.“

 

Herr Kienzle, haben Sie etwas von der Judendiskriminierung in Beckum mitbekommen?

„Es muss im November 1938 gewesen sein, als die Lehrer uns Schüler aufforderten, am Nachmittag in die Stadt zu kommen. Meine Mutter verbot mir aber in die Stadt zu gehen. Am nächsten Tag hörte ich, dass eine Frau mit einem Schild vor der Brust und auf dem Rücken durch die Stadt geführt wurde und dass die Kinder aufgefordert wurden, die Frau anzuspucken. Auf dem Schild stand: Ich habe in der letzten Nacht mit einem Juden in einem Bett gelegen. Einige Kinder haben gespuckt. Erst später erfuhr ich den Hintergrund dieses Geschehens. Ein jüdischer Geschäftsmann war in der Nacht zum 9.11.1938, als die jüdischen Geschäfte und Wohnungen zerstört und geplündert wurden, in seiner Angst in das obere Stockwerk seines Hauses geflüchtet. Dort wohnte diese Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte und ihn hereinlassen wollte. Vor ihrer Tür wurde er dann von der SA erschlagen. Die Frau wurde öffentlich angeprangert.

Den Juden wollte damals niemand mehr helfen. Der Pferdehändler Phillip Windmüller hatte gegenüber von unserem Wohnhaus große Pferdewiesen und manchmal benötigte er Hilfe, um die Pferde zusammenzutreiben. Da er niemanden fand, der ihm half, klingelte er an unserer Haustür und fragte, ob mein Vater ihm helfen könnte. Meine Mutter hatte Angst, wohnten doch auf unserer Straße zwei überzeugte SA-Männer. Sie war überzeugt, dass diese Männer meinen Vater anzeigen würden und dass er dann in den Knast müsste. Sie bat meinen Vater inständig, nicht mitzugehen und zu helfen, aber mein Vater hat doch geholfen.“

Interview mit Reinhold Kienzle
Reinhold Kienzle erzählt von seiner Kindheit in Beckum, seinem Einsatz im Krieg und seiner Kriegsgefangenschaft.
„Am 2.Januar 1926 wurde ich in Beckum geboren. Meine Eltern waren Maria Kienzle geborene Paul und Anton Kienzle. Meine Mutter wurde Mariechen gerufen, mein Vater wurde Sepp genannt, wohl weil er aus Bayern stammte. Mein Vater war ein großer, kräftiger Mann und als griechisch-römischer Ringer war er für die Auswahlmannschaft zu den Olympischen Spielen vorgeschlagen. Ich hatte eine ältere Schwester. Wir wohnten bis 1934 an der Hammerstraße und zogen dann zum Mühlenweg, wo meine Eltern ein Haus gebaut hatten.
1932 kam ich in die Elisabethschule. Es gab eine Mädchen- und eine Jungenklasse in diesem Jahrgang. Nach der 4.Klasse mussten wir in die Kettelerschule gehen; wir gingen in zwei Reihen dorthin, die Mädchen links und die Jungen rechts. Selbst die Pausenplätze an dieser Schule waren getrennt nach Mädchen und Jungen. Nach dem 8. Schuljahr bekam ich eine Lehrstelle in der Schlosserei bei Beumer.
Während meiner Schul- und Lehrzeit hatte ich ein schönes Hobby: ich war Mitglied der Segelflieger HJ und baute mit meinen Freunden Modellsegelflieger im Keller des evangelischen Gemeindehauses. Das hat mir immer sehr viel Freude gemacht, auch wenn wir von den Mitgliedern der Motor HJ nicht sehr angesehen waren. Während meiner Lehrzeit machte ich auf den Flugplätzen Borkenberge, Lippstadt und Schueren die Segelscheine A, B und C.
Im Januar 1943 machte ich vorzeitig meine Gesellenprüfung und wurde noch am selben Tag zusammen mit mehreren Beckumern zum Reichsarbeitsdienst auf einen Flugplatz hinter Osnabrück eingezogen. Nach 3 Monaten wurden wir nach Münster abgeordnet und von dort in verschiedene Einsatzgebiete nach Holland, Belgien und Frankreich geschickt. Da ich drei Flugscheine hatte, beorderte man mich zu einem Flugplatz nach Nimes, wo ich eine Grundausbildung zum Lastenseglerpilot machte. Lastensegler waren damals sehr gefragt: sie flogen geräuschlos und tief, so dass sie von dem feindlichen Radar nicht erfasst werden konnten. Sie konnten bis zu 17 Fallschirmspringer mitnehmen, die dann im Morgengrauen hinter den feindlichen Linien abspringen konnten. Der Pilot musste dann allerdings zusehen, dass er wieder heile auf einem sicheren Platz landen konnte.
Ich hatte meine ersten Einsätze im Mittelmeerraum. Gegen Ende des Krieges wurden wir von Jagdbombern angegriffen. Splitterbomben und Brisanzbomben zerstörten achtzehn Ju 80 und Ju 108, die restlichen auf dem Flugplatz stehenden Flieger wurden durch deutsche Pioniere zerstört. Zu Fuß traten wir den Rückzug durchs Rhonetal an. In Donaueschingen war ich im Lazarett, ich hatte aber nur Fleischwunden. Über Straßburg kam ich dann nach Halberstadt, wo ich als Fallschirmspringer ausgebildet wurde. Die Ausbildung beschränkte sich allerdings nur auf ein paar Übungen wie Runterspringen und Abrollen. Wir sollten nun als Fallschirmspringer eingesetzt werden, aber daraus wurde nichts. Eines nachts hieß es plötzlich: alle anziehen, Klamotten packen und zum Güterbahnhof. Wir wurden nach Forbach ins Saarland gebracht, wo uns am Bahnhof schon ein ostdeutscher General in Empfang nahmen. Wir mussten uns in Reih und Glied aufstellen und er rief uns zu: „Ihr seid jetzt nicht mehr das Fliegerregiment 63, ihr seid jetzt eine Grenadierdivision.“ Wir bekamen alle einen Karabiner ausgehändigt und er schoss in die Luft und rief:“ Wenn einer die Waffe wegwirft, den erschieß ich eigenhändig.“
1945 geriet ich in amerikanische Gefangenschaft und kam in das Kriegsgefangenenlager nach Rheinberg. Wir waren acht Beckumer dort und die Zustände waren schrecklich. Wir saßen im Schlamm, es hat die ganze Zeit geregnet, es gab keine Häuser und keine Toiletten.“
Info
Das Kriegsgefangenenlager Rheinberg war das erste von den Alliierten errichtete Rheinwiesenlager. Es war ein Durchgangslager für Kriegsgefangene und wurde um den 14. April 1945 unter Heranziehung von deutschen Kriegsgefangenen errichtet. Das Lager war von 3 Meter hohen Stacheldrahtzäunen umgeben und nahm über 130000 Kriegsgefangene auf. Kälte, Hunger, mangelnde Hygiene und fehlende medizinische Versorgung verursachten schwere Krankheiten. Zwischen 3000 – 5000 Gefangene verstarben. Das Lager bestand bis September 1945.
„Von Rheinberg wurden mein Freund Hubert Rawens und ich nach Attichy bei Paris verlegt. Als wir eines Morgens sahen, wie die amerikanischen Soldaten mit ihren Wagen und Panzern abzogen, dachten wir, dass wir nach Hause zurückkönnten. Aber das war nicht der Fall, denn die Franzosen hatten ab 1946 das Lager übernommen. Jetzt änderte sich alles: von den Amerikanern hatten wir gute Jacken aus Uniformstoffen und Unterwäsche bekommen, die mussten wir jetzt abgeben. Wir mussten uns nackt ausziehen und bekamen dafür alte Klamotten hingeschmissen.
Von Attichy aus wurden wir in einem Viehwaggon in ein Kriegsgefangenenlager nach Saarburg Elsass gebracht. Hier mussten wir helfen, im Krieg zerstörte Brücken wieder aufzubauen. An einem Bahndamm mussten wir Zementsäcke ausladen, d.h. ein Mann stand im Waggon und ein anderer musste die Säcke unten auf seinen Rücken laden. Bei dieser Arbeit entdeckte ein französischer Soldat, dass ein junger Gefangener eine Zahl unter seinem Arm eintätowiert hatte. Er wusste, dass SS-Leute ihre Blutgruppe unter dem Arm eintätowiert trugen und von nun an hatte der Mann keine gute Stunde mehr. Er musste ohne Pause Zementsäcke rauf und runter tragen. Als er schließlich vor Erschöpfung zusammenbrach, brannte ihn der Franzose mit seiner brennenden Zigarette, so dass er wieder zu Bewusstsein kam. Zurück im Lager wurde er an das Tor eines Stacheldrahtzauns gebunden und damit immer hin und her geschwenkt. Er hat die Nacht nicht überlebt.
In Saarburg sind Hubert Rawens und ich bis 1948 geblieben. Wir hatten uns als Zivilarbeiter gemeldet und haben einige Zeit bei einer Baufirma gearbeitet. Wir hatten Anspruch auf 4 Wochen Heimaturlaub und so fuhren wir am 4. März 1948 zurück nach Beckum. Die Freude bei den Eltern und den Verwandten war groß, doch gab es auch Stimmen, die uns als Vaterlandsverräter beschimpften. Ähnliches hatten wir auch schon in Saarburg gehört. In Beckum bekamen wir den Ratschlag von einem Ingenieur Henkelmann, der bei Beumer arbeitete, dass wir uns Entlassungspapiere von der englischen Behörde geben lassen sollten. Die zuständige Behörde hatte ihren Sitz in Halle bei Gütersloh. Am nächsten Morgen fuhren wir also mit dem Fahrrad nach Halle und brachten unser Anliegen vor. Aber so einfach war das nicht: wir brauchten zunächst eine Arbeitsbescheinigung und mussten einen Beleg für eine Wohnung haben. Wir fuhren also zurück und sprachen wegen einer Stelle bei der Firma Beumer vor, die uns auch prompt wieder einstellte. Einen Wohnungsnachweis erhielten wir von unseren Eltern und am nächsten Morgen radelten wir wieder nach Halle. Dieses Mal klappte es mit der Entlassungsbescheinigung: wir waren wieder Zuhause.“
Herr Kienzle, hat es in ihrer Familie Gefallene gegeben?
„Ja, zwei Brüder meiner Mutter sind im Krieg gefallen. Paul ist 1943 in Russland durch einen Kopfschuss zu Tode gekommen. Berni, der jüngste Bruder, war Panzerfahrer. Er ist in Russland in seinem Panzer verbrannt. Berni war zuvor noch im Urlaub in Beckum gewesen. Am Tag seiner Abfahrt bat er seine Schwester Maria, sein Gepäck zum Bahnhof zu bringen, er wollte noch einmal in die Stadt gehen. Als sie ihm sein Gepäck brachte, stand er allein am Bahnhof, er konnte sie nicht anschauen. Maria erzählte später Zuhause: “ Unser Berni kommt nicht wieder, er war so unruhig.“
Auch ein Bruder meiner Frau Christine, Franz Schembecker ist gefallen. Er war 1944 während der Ardennenoffensive in amerikanische Gefangenschaft geraten und hatte versucht aus dem Lager zu fliehen. Seine Flucht wurde bemerkt und er wurde angeschossen und verblutete. Seine Familie bekam erst 1958 die Nachricht von seinem Tod. Meine Frau und ich besuchten sein Grab auf dem Kriegsgräberfriedhof Hürtgenwald in der Eifel. Der Friedhofswärter führte uns zum Grab und erzählte dabei, dass noch ein Beckumer hier beigesetzt sei. Ich ging um den Gedenkstein von Franz Schembecker herum und las auf der Rückseite den Namen des anderen Beckumers: es war August Korte vom Münsterweg.“

Herr Kienzle, haben Sie etwas von der Judendiskriminierung in Beckum mitbekommen?
„Es muss im November 1938 gewesen sein, als die Lehrer uns Schüler aufforderten, am Nachmittag in die Stadt zu kommen. Meine Mutter verbot mir aber in die Stadt zu gehen. Am nächsten Tag hörte ich, dass eine Frau mit einem Schild vor der Brust und auf dem Rücken durch die Stadt geführt wurde und dass die Kinder aufgefordert wurden, die Frau anzuspucken. Auf dem Schild stand: Ich habe in der letzten Nacht mit einem Juden in einem Bett gelegen. Einige Kinder haben gespuckt. Erst später erfuhr ich den Hintergrund dieses Geschehens. Ein jüdischer Geschäftsmann war in der Nacht zum 9.11.1938, als die jüdischen Geschäfte und Wohnungen zerstört und geplündert wurden, in seiner Angst in das obere Stockwerk seines Hauses geflüchtet. Dort wohnte diese Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte und ihn hereinlassen wollte. Vor ihrer Tür wurde er dann von der SA erschlagen. Die Frau wurde öffentlich angeprangert.
Den Juden wollte damals niemand mehr helfen. Der Pferdehändler Phillip Windmüller hatte gegenüber von unserem Wohnhaus große Pferdewiesen und manchmal benötigte er Hilfe, um die Pferde zusammenzutreiben. Da er niemanden fand, der ihm half, klingelte er an unserer Haustür und fragte, ob mein Vater ihm helfen könnte. Meine Mutter hatte Angst, wohnten doch auf unserer Straße zwei überzeugte SA-Männer. Sie war überzeugt, dass diese Männer meinen Vater anzeigen würden und dass er dann in den Knast müsste. Sie bat meinen Vater inständig, nicht mitzugehen und zu helfen, aber mein Vater hat doch geholfen.“